23. März 2012
Seit dem verheerenden Erdbeben am 11. März 2011, das von einem zerstörerischen Tsunami und einer Havarie im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi gefolgt wurde, ist ein Jahr vergangen. Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wie geht es den Menschen im Katastrophengebiet? Haben alle Menschen wieder ein Dach über dem Kopf? Wie geht das Leben weiter, wenn ganze Landstriche mit ihren Orten, ihren Arbeitsplätzen und ihrer Infrastruktur zerstört sind?
Inhalt
Leben im Behelfsheim ||
Alle sind gleich? ||
Verteilung der Behelfsheime ||
Leben mit dem Provisorium ||
Die Katastrophe im Zeitalter des Internets ||
Belastungen und Probleme
Als erstes haben die Präfekturen, Städte und Gemeinden versucht, die Menschen aus den Notunterkünften herauszuholen und ihnen wieder ein wenig Privatsphäre zu ermöglichen. Dazu wurden Behelfsheime gebaut und leerstehende Wohnungen vermittelt. Aber bis auch die Notunterkünfte aufgelöst werden konnten, die Senioren oder Behinderte aus zerstörten Einrichtungen aufgenommen hatten, verging viel Zeit. Erst Ende 2011 waren alle Notunterkünfte geschlossen.
Für die Bewohner sind die Belehlfsheime kostenlos. Sie zahlen nur für Strom und Heizung. Bau und Unterhalt trägt die öffentliche Verwaltung, die die Behelfsheime grundsätzlich für zwei Jahre zur Verfügung stellt. Viel Platz ist in den Fertigbauten mit ihrer Normgröße von 29,7m2 nicht, aber Klimaanlage, Boiler und Gasherd gehören zur Grundausstattung. Das Japanische Rote Kreuz stellt für jeden Haushalt weitere sechs Elektrogeräte zur Verfügung: einen Kühlschrank, eine Mikrowelle, einen Reiskocher, einen Wasserkocher, eine Waschmaschine und einen Fernseher. Da das Klima in Nordostjapan durch sommerlichen Temperaturen von weit über 30 Grad und Winter mit viel Eis und Schnee geprägt ist, ist die Aussicht auf ein mehrjähriges Leben in solch einer Blechhütte trotzdem nicht erheiternd. Zumal das ganze Leben Kopf steht: Die meisten Menschen haben nicht nur ihre Arbeit verloren, sondern gleich ihre gesamte Arbeitsstätte und ihr Lebensumfeld. Wo soll man sich also um einen neuen Job bewerben? Und wenn man es schafft, ein Bewerbungsgespräch zu bekommen: Was zieht man an? Und wie kommt man hin? Alles ist weg, auch die Verkehrsinfrastruktur. Und die Ersparnisse schmelzen täglich dahin. Wie soll man so seine Kinder für die Zukunft motivieren?
Weil es gar nicht so einfach ist, wieder durchzustarten, haben einige Familien nach dem Erdbeben von Kōbe Mitte der 90er Jahre bis zu fünf Jahre in den Behelfsunterkünften ausgeharrt. Daher soll jetzt die Standard-Wohnzeit von zwei auf fünf Jahre verlängert werden.
Die Baustandards für die Behelfsheime haben sich über die Jahre aus den Erfahrungen der Vergangenheit entwickelt, aber jede Präfektur kann sie bei Bedarf an die eigenen Besonderheiten anpassen.
Eines der Probleme, mit denen die Bewohner zu kämpfen haben, ist die Feuchtigkeit: Sowohl die sowieso sehr hohe Luftfeuchtigkeit im Sommer als auch das Schwitzwasser, das sich in der kalten Jahreszeit innen an der kühlen Außenhaut sammelt. Auf die Dauer führt das leicht zur Schimmelbildung. Die Wände sind dünn, es istweder mit der Wärmeisolierung noch mit der Privatsphäre weit her. Ob der Nachbar hustet, schnarcht oder streitet, alles ist zu hören. Andererseits haben die verschiedenen Ausführungen von Behelfsheimen, die angeboten werden, auch zur Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt: In Japan wird allgemein von der Verwaltung erwartet, dass sie jedem exakt dieselben Dienstleistungen zur Verfügung stellt.
Die Unterschiede zwischen verschiedenen Behelfsheime entstehen, weil sie von verschiedenen Herstellern geliefert werden. Die Präfekturen haben ein Abkommen mit dem japanischen Fertighausverband Japan Prefabricated Construction Suppliers and Manufacturers Association, Der Verband bewertet die von den Städten und Gemeinden vorgeschlagenen Orte für den Aufbau, berät bei der Aufbauplanung und vermittelt Unternehmen, die Behelfsheime bereitstellen können. Aufgrund des unerwartet hohen Bedarfs wurden diesmal jedoch auch Bestellungen direkt an lokale Unternehmen herausgegeben. Die vielen Angebote aus dem Ausland wurden vom Ministerium für Land, Infrastruktur, Transport und Tourismus an die Präfekturen weitergegeben, aber nur in drei Fällen tatsächlich angenommen.
Einige mediale Aufmerksamkeit haben Behelfsheime aus Holz in Sumita in Iwate auf sich gezogen. Auf Bestellung der Stadtverwaltung hat dort das örtliche Bauunternehmen mit Hilfe von Handwerkern aus der Umgebung 110 Behelfsheime aus lokal angebautem Nadelholz errichtet, die ersten waren schon Ende April bezugsfertig. Die Behelfsheime waren zufällig kurz vor dem Beben entwickelt worden. Mit der Aufstellung wollte die Stadt Sumita Bewohner aus den nahe gelegenen Städten Ōfunato und Rikuzen Takata helfen, in der Region zu bleiben und gleichzeitig einen Wirtschaftsimpuls geben. Denn das Geld für die Fertighäuser fließt normalerweise in andere Regionen Japans ab.
Seit dem Erdbeben in Kōbe Mitte der 90er Jahre gibt es übrigens auch besondere Behelfseime für Senioren und Behinderte, die als Gruppenunterkünfte mit Pflegepersonal ausgelegt sind. Neben den Zimmern für die Bewohner sind sie mit einer Gemeinschaftsküche, einem Speisesaal und einem Aufenthaltsraum ausgestattet.
Die Behelfsheime, die nach einer Naturkatatrophe aufgestellt werden, sind Eigentum des Ministeriums für Wohlfahrt und Arbeit und werden mit Hilfe des Ministeriums für Land, Infrastruktur, Transport und Tourismus von den Präfekturen über die Stadt- und Gemeindeverwaltungen an Bedürftige vergeben. Die öffentliche Verwaltung kann zu diesem Zweck auch leer stehende Häuser und Wohnungen anmieten.
Bedürftig ist jeder, dessen Haus oder Wohnung unbewohnbar geworden ist, der in einem Gebäude gewohnt hat, das aufgrund der Schäden abgerissen und neu aufgebaut werden muss oder der aufgrund der Schäden den Verlust der Wohnung befürchten muss. Die Berechtigten hatten in der Regel bis Mitte Juni des vergangenen Jahres Zeit, ein Behelfsheim bei ihrer Stadt oder Gemeinde zu beantragen.
Nach fünf Monaten waren in ganz Nordostjapan rund 30.000 Behelfsheime fertiggestellt. Dennoch lief die Verteilung der Behelfsheime nicht immer reibungslos. Zeitverluste entstanden unter anderem, weil Kraftstoff fehlte und die Stadt- und Gemeinderwaltungen zum Teil komplett zerstört waren. Behelfsheime, die nicht gut an den Verkehr angebunden sind, waren nur schwer zu vermitteln. In Städten und Gemeinden, die in den Notunterkünften kostenlos Essen ausgegeben haben, waren die Menschen kaum dazu zu bewegen, ein Behelfsheim zu beziehen, in dem sie sich selbst versorgen müssen.
Hauptakteure bei der Organisation waren die Präfekturverwaltungen. So hat zum Beispiel die Präfektur Iwate schon einen Tag nach dem Beben am 11. März die betroffenen Städte und Gemeinden aufgefordert, den Bedarf zu erfassen und sofort 8.800 Behelfsheime bei den Herstellern in Auftrag gegeben. Schon wenige Tage darauf begann die Suche nach geeigneten Grundstücken und am achten Tage nach dem Beben wurden in der Stadt Kamaishi die ersten Behelfsheime aufgestellt. Ende März war dann klar, dass allein in Iwate 18.000 Behelfsheime benötigt werden. Bis Mitte August waren sie alle aufgestellt, die meisten von ihnen in Parks, auf Sortplätzen oder Pausenhöfen, aber auch auf Parkplätzen und anderem öffentlichem und privatem Grund.
Da Behelfsheime nicht immer verkehrsgünstig gelegen sind, haben besonders ältere und Behinderte Probleme, ihre täglichen Besorgungen zu erledigen. Die öffentliche Verwaltung und Vereine versuchen, diese Menschen zu unterstützen. In einigen Orten wird für sie kostenlos Essen verteilt. Verkaufswagen und provisorische Verkaufsstellen vom privaten Einzelhandel ergänzen das Angebot. Einige Gemeinden stellen Busse oder Sammeltaxen, damit die Menschen zum Einkaufen fahren können. Aber eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung ist nicht einfach, denn auch die Geschäfte und Lieferketten im Katastrophengebiet sind zerstört. Die Infrastruktur noch nicht wiederhergestellt, und in den öffentlichen Kassen herrscht Ebbe. Das hat ein neues Wort geprägt: Kaimono nanmin, die Einkaufsgestrandeten.
Die Orte, an denen sich provisorische Geschäfte angesiedelt haben, sind allerdings nicht nur für den Einkauf wichtig. Sie sind ein Ort der Kommunikation, eine Informationsbörse und ein Anker ins „normale Leben“.
Um das Problem der Mobilität zu lösen, haben Privatpersonen und Unternehmen aus anderen Regionen Japans Gebrauchtwachen in die Katastrophengebiete gespendet. Die werden dann zum Beispiel vor Ort genutzt, um ältere Menschen zum Arzt zu fahren. Es gibt auch Gruppen von Bewohnern von Behelfsheimen, die gemeinsam ein privat organisiertes Car-Sharing aufgebaut haben, In Kamaishi wurden Ende 2011 Pedelecs mit Solar-Ladestationen versuchsweise einen Monat lang kostenlos zur Verfügung gestellt. Bis die Bahn wieder fährt, kann es noch dauern, denn die Strecken verliefen in den weniger bergigen Landstrichen am Wasser und sind zerstört - genau wie Bahnhöfe und viel rollendes Material.
Vermutlich ist der Tsunami vom 11. März 2011 die Naturkatastrophe, die am besten mit elektronischen Medien dokumentiert und im Internet abgebildet ist. Aber auch im provisorischen Alltag nach der Katastrophe spielt das Internet eine wichtige Rolle. Trotz aller Einschränkungen im täglichen Leben lässt sich mit etwas Kreativität manches Problem lösen. Das gilt auch für das Leben in den Behelfsheimen, ist aber natürlich für einen handwerklich nicht mehr als durchschnittlich begabten Menschen nicht immer einfach, zumal man in Japan in einer gemieteten Wohnung normalerweise nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen darf. Entsprechend gering sind die Heimwerker-Erfahrungen der meisten Menschen.
Inzwischen gibt es jedoch so einige Websites und Blogs mit Anregungen: Wie kann man selbst etwas bauen? Wo finde ich möglichst kostengünstiges Material? Welches Werkzeug brauche ich? Die Ideen sind vielseitig: Wie baue ich eine Rampe, damit ein Rollstuhlfahrer oder jemand mit Rollator leichter ins Gebäude kommt? Wie kann ich das Vordach vor dem Eingang vergrößern, damit ich nicht immer Schnee und Regen mit in die Wohnung schleppe? Was lässt sich alles mit Magneten anstellen? Wie kann ich das Gebäude mit schnell rankenden (und Gemüse liefernden) Pflanzen so begrünen, dass es im Sommer innen nicht so heiß wird? Wie kann ich meine dünnen Wände gegen nachbarlichen Lärm oder die winterliche Kälte isolieren? Wie zimmere ich mir aus Abfallholz ein Regal? Und vieles andere mehr.
So gut sich das Leben in Notunterkünften und Behelfsheimen auch eingerichtet hat, die Unsicherheit über die Zukunft, der Verlust von Arbeitsplatz und gewohner Umgebung sowie der Verlust nahe stehender Menschen und des sozialen Netzwerks bleiben für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Überlebenden nicht ohne Folge.
Im Winter hat die Stadt Ōfunato in Iwate die gesundheitlichen Folgen des Lebens in Behelfsheimen untersucht und besorgt festgestellt, dass fast 90 % der Bewohner weniger Calcium und Vitamine zu sich nehmen, als die staatlichen Mindestwerte vorgeben. Dafür nimmt rund die Hälfte der Bewohner zuviel Salz und Fett zu sich. Die Studie führt das darauf zurück, dass Einkauf und Zubereitung so weit erschwert sind, dass insgesamt zu selten Mahlzeiten zubereitet und mehr Fertiggerichte konsumiert werden. Da die Stadt langfristige Folgen wie die Zunahme von Diabetes oder Bluthochdruck befürchtet, bietet sie zusätzlich zur bereits angebotenen Ernährungsberatung Kurse zur ausgewogenen Ernährung und Hilfe beim Einkauf an.
Die Ernährung ist jedoch nicht das einzige Problem mit dem die Bewohner der Behelfsheime zu kämpfen haben. Gerade bei älteren Menschen, die aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen wurden, ist die Gefahr der Hoffnungslosigkeit und Vereinsamung groß, was sich natürlich auch wieder auf die Ernährung auswirkt. Und schon einige sind von ihrer Umwelt fast unbemerkt verstorben.
Aber auch diejenigen, die das Katastrophengebiet verlassen haben, sind auf einem langen und nicht immer einfachen Weg zurück in die Normalität. So ergab eine Untersuchung über Familien, die in städtischen Wohnblocks in Sapporo gelandet waren, dass die meisten von ihnen zwar dorthin gezogen sind, weil sie dort Verwandte oder Bekannte haben, einige von ihnen jedoch bis zu sechs Mal umziehen mussten, bis sie ihren derzeitigen Wohnort gefunden haben. Und die Tatsache, dass sie natürlich noch wenig Anschluss vor Ort haben, ist bei der Verarbeitung ihrer traumatsichen Erlebnisse auch nicht sehr hilfreich.
Zuletzt geändert am 23.03.2012
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Das Foto der Behelfsheime ist Wikimedia Commons entnommen, die Originaldatei befindet sich hier. Foto: Daisuke Tsuda. Lizenz: Creative Commons Attribution ShareAlike 2.0 Generic. Das Foto der Stadtverwaltung von Kesennuma ist Wikimedia Commons entnommen, die Originaldatei befindet sich hier. Foto: Daisuke Tsuda. Lizenz: Creative Commons Attribution ShareAlike 2.0 Generic. Das Foto des Verkaufswagens ist Wikimedia Commons entnommen, die Originaldatei befindet sich hier. Foto: ChiefHira. Lizenz: Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 Unported. Das Foto des Restaurants ist Wikimedia Commons entnommen, die Originaldatei befindet sich hier. Foto: ChiefHira. Lizenz: Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 Unported.