1. Juni 2011
Im März 2012 haben die Städte Ishinomaki und Iwanuma in Miyagi als erste im Katastrophegebiet ihre Wiederaufbaupläne dem Staat vorgelegt. Ishinomaki will innerhalb von zwei Jahren 26 Haushalte mit insgesamt 89 Personen umsiedeln, Iwanuma 484 Haushalte mit 1.504 Personen. Allein für Ishinomaki werden Kosten von rund 793 Millionen Yen (rund 7,2 Millionen Euro) dafür veranschlagt. Aber was hat es mit diesen Plänen auf sich?
Inhalt
Tsunamiland ||
Umsiedlungen und Fluchtwege ||
Der Glaube an den Flutschutz ||
Sind Wälle und Wälder sinnlos? ||
Vergessen und Wiederbesiedlung ||
Baugesetze ||
Wiederaufbau und demographischer Wandel
Die zerklüftete Felsküste in Nordostjapan mit kleinen Fischerorten in engen Flusstälern potenziert die Zerstörungsgewalt eines Tsunami. In flachen Regionen ist es schwer genug, vor der Welle davonzulaufen, aber in den schmalen und spitz zulaufenden Buchten in Nordostjapan türmt sich das anbrandende Wasser zu ungeahnten Höhen auf.
In den 150 Jahren vor dem Großen Ostjapan-Beben von 2011 gab es in Nordostjapan drei große Tsunamis, die recht gut dokumentiert sind: der Meiji-Sanriku-Tsunami im Jahr 1896, der Shōwa-Sanriku-Tsunami von 1933 und der Tsunami nach dem Großen Chile-Erdbeben 1960.
Schon für den Wiederaufbau nach dem Meiji-Sanriku-Tsunami sind Umsiedlungen dokumentiert. Ein Beispiel ist Hajikami Akedo in der Nähe des Bahnhofs Rikuzen Hashikami. In der Siedlung, die heute zur Stadt Kesennuma gehört, hat der Tsunami von 1896 insgesamt 81 Gebäude zerstört und 452 Opfer gefordert.
Die Siedlung wurde daraufhin wurde auf eine Erhebung verlegt, auf der drei parallele Straßen jeweils im Abstand von 14m angelegt wurden. An der mittleren Straße wurden Häuser für 84 Familien gebaut. Die meisten von ihnen waren auch 2011 nicht vom Tsunami betroffen, obwohl die Siedlung von drei Seiten umspült wurde.
Auch nach dem Shōwa-Sanriku-Tsunami in den 1930er-Jahren gab es Umsiedlungen. Dafür wurden günstigere Zinsen geboten, und der Staat übernahm 85 % der Kosten für die Neuanlage von Straßen.
Eine der Siedlungen, die damals mitsamt der Präfekturstraße verlegt wurden, war Tōni Hongo, heute ein Teil der Stadt Kamaishi. Dazu wurde der Südhang der Hügelkette nördlich der ursprünglichen Siedlung abgetragen. Von der Präfekturstraße aus führt eine schnurgerade Straße in die Berge, die von allen Grundstücken aus zugänglich ist und die auch heute noch als Tsunami-Fluchtweg gekennzeichnet ist. Der damals angepflanzte Küstenwald hat den Tsunami nicht überlebt, aber das Dorf und die 1934 an der neuen Präfekturstraße gepflanzten Kirschbäume waren gerettet.
Im Zentrum von Kamaishi wurde die Aoba-Dōri, eine breite parkgesäumte Straße, als Fluchtweg angelegt. Sie führt direkt vom Fischereihafen in die Berge und wurde immer für Veranstaltungen genutzt. Hier haben sich nach dem Großen Ostjapan-Beben die Hilfskräfte und die ersten provisorischen Geschäfte und Restaurants angesiedelt.
Seit den 1960er Jahren setzte man nicht mehr auf Umsiedlungen, sondern auf Flutzschutzwälle. Zum einen hat der Tsunami nach dem Großen Chile-Erdbeben geringere Schäden verursacht als die beiden vorhergehenden Tsunami. Zum anderen hatte sich die Gesellschaft verändert: Japan war in der Phase des extremen Wirtschaftswachstums, die Menschen glaubten an die Zukunft und an die Technologie.
Tarō, heute ein Teil der Stadt Miyako in Iwate und für einen doppelten Flutschutzwall bekannt, war der Vorreiter. Der Meiji-Sanriku-Tsunami im 19. Jahrhundert war für den Ort eine Tragödie. Überlebt hatten fast nur diejenigen, die zufällig gerade auf dem Meer oder in den Bergen waren. Alle Häuser waren zerstört. Aber der Ort wurde aufgrund von Streitigkeiten über die Finanzierung einer Umsiedlung an derselben Stelle wieder aufgebaut.
Auch beim Shōwa-Sanriku-Tsunami 1933 wurden die meisten Gebäude zerstört, rund ein Drittel der knapp 3.000 Bewohner waren tot oder vermisst. Diesmal wurde eine Umsiedlung aus topographischen Gründen verworfen. Stattdessen sollten die Straßen als Fluchtwege in die Berge führen, Flutschutzwälle wurden gebaut. Öffentliche Gebäude sollten als Zufluchtsorte möglichst nahe an den Bergen auf höher gelegenem Grund liegen und mit breiten Zufahrtsstraßen versehen werden.
Trotz einer 14-jährigen Zwangspause während des Zweiten Weltkriegs konnte der erste 1.350m lange und 10m hohe Wall 1958 nach 24 Jahren Bauzeit gerade rechtzeitig vor dem Großen Chile-Beben fertiggestellt werden. Er verhinderte größere Schäden und wurde weiter ausgebaut. Andere Orte zogen nach. 1965 war der Schutzwall von Tarō fertig: 2.433m lang und mit mehreren Flutschutztoren versehen schlängelte er sich x-förmig durch den Ort. Delegationen aus der ganzen Welt haben ihn besucht, um von dem technischen Wunderwerk zu lernen.
Kritische Stimmen sagen, dass diese Wälle vielleicht eher eine Falle waren als ein Segen. Denn auch an Orten, an denen sie sich nicht so sicher fühlten, haben Menschen ihr Leben verloren, weil sie ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen haben. Eine Gefahr, die nur alle 30 Jahre mal auftritt, wird wohl doch leicht unterschätzt und der Mensch neigt dazu, das, was er gerade macht, noch eben schnell zu Ende zu machen oder Wertsachen retten zu wollen.
Rund zwei Drittel der Flutschutzwälle und die schon seit Jahrhunderten angepflanzten Küstenwälder fielen 2011 dem Tsunami zum Opfer. Bäume, die weniger als 3m tief verwurzelt waren, wurden ausgerissen und haben alles, was auf ihrem Weg lag, zerstört. In Rikuzen Takata hat eine rund 15m hohe Welle einen Schutzwald von 200m Breite bis auf einen einzigen Baum zerstört. Für die Bucht von Kesennuma werden Fließgeschwindigkeiten von 10m/s angenommen, den dabei freiwerdenden Kräften ist kein Baum gewachsen.
Bei kleineren Tsunamis haben die Küstenwälder allerdings durchaus einen Sinn. Sie haben schon verhindert, dass Fischerboote in die Siedlungen geschwemmt werden und so zur Schadensbegrenzung beigetragen. Und auch im vergangenen Jahr konnten Bäume Leben retten: Manch einer hat überlebt, weil er rechtzeitig auf einen Baum geklettert ist. Aus diesem Grund sollen die Schutzwälle wieder aufgebaut und die Wälder neu angepflanzt werden.
Große Schäden gab es in Orten, deren Bewohner nach einem Tsunami umgeseidelt worden waren, die aber später wieder bebaut wurden.
Shishiori am nördlichen Ende der Bucht in Kesennuma ist ein Beispiel für das Vergessen. Das ursprünglich als Meerwassersaline genutzte Gebiet wurde Anfang des 20. Jahrhunderts für die Landwirtschaft erschlossen. Nach ein Großfeuer im Stadtzentrum haben sich hier ab 1929 fischverarbeitende Betriebe und Industrie angesiedelt. Eine Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg machte Shishiori zu einem reinen Wohngebiet. Trotz erheblicher Schäden nach dem Chile-Erdbeben wurde die Erschließung fortgesetzt, ohne dass Fluchtwege in die Berge und ein Flutschutzwall angelegt wurden.
Aber auch anderenorts ist die Erinnerung schnell verblasst. Der tägliche Weg zur Arbeit im Fischereihafen ist weit, aber ein Tsunami tritt selten auf. So zum Beispiel in Tanohama in Funakoshi, Iwate. Der lebhafte Fischerort mit rund 1.500 Einwohnern wurde 1934 um 300m auf rund 15m höheren Grund verlegt. Aber ab Mitte der 60er-Jahre wurde im Uferbereich hinter dem Flutschutzwall wieder fleißig gebaut. Und dort wurden vermeintlich sichere Gebäude im Jahr 2011 zur tödlichen Falle.
Besonders in Orten, die schnell gewachsen sind und die viele Menschen aus anderen Regionen Japans angezogen haben, sind die Schäden groß. Denn hier waren die Überlieferungen über Tsunamis und die Gedenksteine in den Bergen nicht bekannt – oder sie wurden nicht ernst genommen.
Die Ausführungsbestimmungen zu § 8 Nr. 2 vom Stadtplanungsgesetz besagen, dass in tsunamigefährdeten Gebieten grundsätzlich nicht gebaut werden darf. Eine Definition fehlt. Ist ein Gebiet hinter einem Flutschutzwall gefährdet? Aufgrund § 39 des Baunormengesetzes können Städte und Gemeinden Gebiete mit Überflutungsgefahr ausweisen. Von den 42 ausgewiesenen Gebieten sind jedoch nur drei tsunami- oder sturmflutgefährdet. Der Rest liegt im Binnenland an Flüssen.
Um endlich Sicherheit zu schaffen, wurde im Dezember 2011 das Gesetz über den Bau von tsunamigeschützten Siedlungen erlassen. Aufgrund einer Richtlinie des Ministeriums für Land, Infrastruktur, Transport und Tourismus müssen die Präfekturen jetzt Simulationen durchführen und aufgrund der Topograpie, örtlicher Besonderheiten und bisheriger Naturkatastrophen wenig und stark tsunamigefährdete Gebiete ausweisen. Dabei ist der größtmögliche Tsunami anzunehmen.
Besonders in stark gefährdeten Zonen gelten strenge Bauauflagen. Der Bau von Krankenhäusern, Schulen und sozialen Einrichtungen ist hier verboten, alle anderen Gebäude müssen besonders sicher und mit Schutzräumen ausgestattet sein. Daher kommen dort nur Gewerbe- oder Fabrikgebäude in Frage, die hoch genug sind, schnell evakuiert werde können und hohe Investitionen in die Gebäudestruktur erlauben. Für beide Zonen sind ergänzende weiche Maßnahmen zwingend vorgesehen. Dazu zählen umfassende Informationen für die Bevölkerung, Katastrophenpläne, Gefahrenkarten und Evakuierungsübungen.
In Sendai wird aufgrund dieser Simulationen überlegt, einen 200m bis 400m breiten Küstenwald auf künstlichen Hügeln anzupflanzen und ihn seeseitig durch einen über 7m hohen Schutzwall zu ergänzen. Die Hauptstraße soll auf 4m höheren Grund verlegt werden. Rund 2.000 Gebäude können nicht mehr bewohnt werden, was schon Anwohnerproteste hervorgerufen hat. Nicht auszudenken ist, welche Ausmaße die Umsiedlungen und Proteste annehmen können, wenn das Gesetz auf die dicht besiedelten Küsten westlich von Tōkyō angewandt wird.
Nordostjapan hat nicht nur mit dem Wiederaufbau nach dem Tsunami zu kämpfen, sondern auch mit dem demographischen Wandel. Schon vor 2011 lag in der Küstenregion mit Ausnahme der Stadt Sendai der Anteil der über 65-jährigen durchweg bei über 25 %. Neben Fischerei, Forstwirtschaft und Tourismus gibt es nur wenige Einkommensquellen, viele junge Menschen wandern ab. Wie soll der Wiederaufbau also aussehen?
Aber auch die Infrastruktur braucht Zeit. Viele Orte waren lange von der Versorgung abgeschnitten, weil Straßen weggespült oder verschüttet waren. Von den Bahnstrecken ganz zu schweigen. Daher werden Neutrassierungen in höher gelegenen Gebieten diskutiert.
Es gibt auch viele Vorbehalte gegen Umsiedlungen. Die Gründe sind vielfältig: Die Angst davor, ein Geschäft aufgeben zu müssen, die Verbundenheit mit einem Stück Erde, das schon seit Generationen beackert wurde oder die Überzeugung, dass man den nächsten Tsunami sowieso nicht mehr erlebt.
Positiv ist, dass mehr Rücksicht als bisher auf die Landschaft genommen wird. Die neuen Ortschaften sollen sich harmonisch einfügen, um die Risiken bei Naturkatastrophen zu mindern und für Touristen attraktiv zu sein. Deshalb wird auch die lokale Identität und Geschichte wieder groß geschrieben.
Zuletzt geändert am 01.06.2012
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Die Karte von Kesennuma wurde aus OpenStreetMap entnommen.
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Das Foto von Rikuzen Takata wurde aus Wikimedia Commons entnommen, die Originaldatei befindet sich hier.
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Das Foto von Shishiori wurde aus Wikimedia Commons entnommen, die Originaldatei befindet sich hier.
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Das Foto von Matsushima wurde aus Wikimedia Commons entnommen, die Originaldatei befindet sich hier.
Foto: Kumamushi.
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