31. August bis 11. September 2009
Im Rahmen einer Forschung der International Association of Traffic and Safety Sciences (IATSS) habe ich mit einer Gruppe japanischer Wissenschaftler und Verkehrsplaner vier europäische Länder bereist, um mehr über Shared Space zu erfahren. Interessant war, dass die bauliche Gestaltung alles andere als einheitlich ist und dass sie überall nicht nur den Verkehr neu ordnen soll, sondern ein ganzes Quartier aufwerten. Shared Space ist also nicht nur ein Instrument der Verkehrsplanung: Es wird vielmehr eingesetzt, um die Qualität des öffentlichen Raums insgesamt zu steigern.
Inhalt
Was ist Shared Space? ||
Und was macht die EU? ||
Fahren jetzt alle langsam? ||
Und das ist nun wirklich sicher? ||
Ist das denn alles neu? ||
Und was braucht man dafür? ||
Die Projekte
Das Konzept von Shared Space wurde vom niederländischen Verkehrsplaner Hans Monderman erdacht und 1985 erstmals in Oudehaske in der Provinz Friesland umgesetzt. Aber bis sich "Shared Space" als Bezeichnung für eine bestimmte Art von Verkehrsräumen mit hoher Aufenthaltsqualität etablieren konnte, dauerte es noch ein paar Jahre.
Regeln gibt es bei Shared Space jedenfalls nur zwei: Rechts vor links und gegenseitige Rücksichtnahme. Ampeln, Verkehrsschilder und Fahrbahnmarkierungen haben (weitgehend) ausgedient und der öffentliche Raum kann flexibler genutzt werden.
Auch die Unordnung, die sich oft über Jahre angesammelt hat, wird aus dem Straßenraum beseitigt: Das Straßenmobiliar wird durchgeforstet und auf Notwendiges reduziert. Bauliche Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung wie etwa Aufpflasterungen oder Poller, die oft nur den Autoverkehr über Gebühr betonen, ebenfalls. Deshalb wird auch der Asphalt der Fahrbahnen ersetzt: Die Gestaltung und alle eingesetzten Materialien sollen individuell sein und Themen aus der Lokalgeschichte aufgreifen.
Sechs Städte und eine Region in fünf Staaten haben von 2004 bis 2008 an einem EU-Modellprejekt zu Shared Space teilgenommen, das aus INTERREG-IIIB-Geldern gefördert wurde. Ein wichtiges Ziel war die Vertiefung der Zusammenarbeit und des Ideenaustauschs zwischen den internationalen Partnern.
Aber es gibt auch immer mehr Städte und Regionen, die nie an diesem Modellprojekt teilgenommen haben und sich trotzdem für Shared Space interessieren. Auch wenn sie ihre Projekte nicht immer als Shared Space bezeichnen.
Shared Space ist ein psychologischer Ansatz zur Verkehrsplanung, nach dem es drei Arten von Verkehrsräumen gibt. Dabei gilt ein Raum als sicher, der für die schnelle Fortbewegung gestaltet wurde und in dem es getrennte Flächen für Fußgänger, Radfahrer und den motorisierten Individualverkehr gibt: Hier handeln alle aufgrund der Verkehrsregeln.
Auch ein Raum, der vorwiegend dem Aufenthalt dient, gilt als sicher, wenn der Autoverkehr, Radfahrer und Fußgänger gleichberechtigt sind, miteinander Augenkontakt halten und kommunizieren können. Dabei gilt, dass der Mensch sowieso nicht "nicht kommunizieren" kann, wie schon der österreichische Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick gesagt hat: Stets sendet man Signale aus, über die Geschwindigkeit und die Richtung der Bewegung, die körperlichen Fähigkeiten, die Stimmung und den Aufmerksamkeitsgrad. In einem Shared-Space-Bereich sind diese Signale besonders wichtig. Aber auch die Umgebung sendet Signale aus. So wird es in einer belebten Geschäftsstraße vermutlich auch viele Fußgänger geben, die die Straße überqueren wollen.
Nur ein Verkehrsraum, der weder eindeutig für die schnelle Fortbewegung noch eindeutig für den Aufenthalt geschaffen ist, wird als gefährlich angesehen. Hier gibt es sowohl Menschen, die schnell fahren wollen und denken "Ich habe aber Vorfahrt!", als auch Menschen, die bummeln wollen und denken "Der sieht mich ja...". Shared Space sorgt dafür, dass solche Räume eindeutiger gestaltet werden.
Da bei Shared Space Mischflächen für Autos, Fußgänger und Radfahrer angelegt werden, auf denen nur rechts vor links gilt, weiß man eigentlich nie genau, wie man sich verhalten soll. Das ist durchaus gewollt, da so alle mehr aufeinander achten und vorsichtiger sind. Die gefühlte Sicherheit ist hier also deutlich geringer als die tatsächliche.
Es gibt zwar einige Forschungen zu Verkehrssicherheit, Unfällen und zu Geschwindigkeiten, aber da das Konzept von Shared Space noch neu ist, liegen bisher nur wenige Daten vor. Allerdings haben uns alle versichert, dass es weniger und leichtere Unfälle gibt als vor der Umgestaltung.
Natürlich gibt es auch Probleme. Oft wird darauf hingewiesen, dass sich Sehbehinderte nur schwer in Shared-Space-Räumen zurechtfinden. In einigen Gebieten wurden Zebrastreifen und Blindenleitlinien nachgerüstet. Aber das ist durchaus legitim: Shared Space ist nun einmal kein Instrument für die Verkehrssicherheit, sondern in erster Linie eins für die gestalterische Aufwertung eines ganzen Quartiers.
Der Gedanke, dass man durch Unsicherheit Sicherheit erzeugen kann ist sicher neu, aber wer genau hinsieht, erkennt, dass Shared Space an die Tradition anderer Verkehrsberuhigungsmaßnahmen — zu nennen sind etwa der verkehrsberuhigte Bereich und die Zone 30 — anknüpft.
Genau wie Shared Space zielen auch diese darauf ab, das Wohnumfeld zu verbessern und legen die oberste Priorität nicht mehr auf den sicheren und flüssigen (Auto-) Verkehr. Durchgangsverkehr soll aus Wohngebieten ferngehalten werden, die Geschwindigkeit wird gesenkt. Allerdings zeichnen sich die klassischen Verkehrsberuhigungen durch bauliche Maßnahmen zur Geschwindigkeitssenkung aus, wie etwa Aufpflasterungen oder Verschwenkungen. Shared Space verzichtet darauf. Stattdessen werden Bepflanzungen oder Bänke strategisch platziert. Der Straßenraum soll wieder ein menschliches Maß erhalten.
Im Gegensatz zu herkömmlichen Verkehrsberuhigungen wird Shared Space nicht nur in Wohngebieten, sondern auch an Hauptstraßen eingerichtet. Das ist ebenfalls neu. Außerdem wird bei dieser prozessbetonten Art der Verkehrssraumgestaltung größerer Wert auf Bürgerbeteiligung gelegt als je zuvor.
Zunächst braucht man jemanden, der sich den Verkehrsraum mit den Autos teilen will. Ideal ist eine Straße mit viel Fahrrad- und Fußgängerverkehr, und zwar nicht nur Längsverkehr, sondern auch mit dem Verkehr, der die Straße überqueren will.
Als zweites braucht man Anwohner, die sich für die Idee begeistern können. Da lokale Besonderheiten und die Geschichte des Orts in das Design einfließen sollen, wird ihre Beteiligung als unerlässlich angesehen. Deshalb ist es nicht nur wichtig, sie zu informieren, sondern sie in den gesamten Planungsprozess einzubeziehen.
Und nicht zuletzt braucht man mutige Mitarbeiter in der Verwaltung. Anders als bei der herkömmlichen Straßenplanung steht nämlich nicht mehr der motorisierte Individualverkehr im Fokus, und auch die Planer müssen umdenken. Da nicht nur die Straße neu gestaltet wird, sondern auch der angrenzende Raum, ist eine gute Zusammenarbeit der verschiedenen Fachämter ebenfalls unabdingbar.
Man kann diesem Experiment jedoch auch einiges abgewinnen. Die Straßen wirken offener und aufgeräumter, und da der Schilderwald gefällt wird, sinken die Unterhaltskosten. Oft wird Shared Space in Gebieten ausprobiert, die für Bewohner und Einzelhandel attraktiver werden sollen. Und das kann ja durchaus auch finanzielle Vorteile für die Städte und Gemeinden bringen.
EU- Projekt |
Ort | Info | Foto |
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Ja | Bohmte (D) |
Bohmte war der einzige deutsche Teilnehmer im EU-Projekt. Im Ortszentrum wurde eine Landesstraße, die von vielen Geschäften gesäumt ist, neu gestaltet. Auf diese Weise wurde die Geschwindigkeit des Durchgangsverkehrs verringert, wobei vor dem Umbau besonders der Schwerlastverkehr problematisch war. Jetzt finden sich für die Häuser direkt an der Straße wieder Mieter. | |
Nein | Köln (D) |
Wie viele andere deutsche Großstädte interessiert sich auch Köln für Shared Space und möchte einige Straßen versuchsweise nach den Prinzipien von Shared Space umgestalten. Außerdem läuft derzeit ein Programm zur flächenhaften Einführung von Tempo-30-Zonen und eine Umweltzone wird schrittweise umgesetzt. | |
Nein | Ratzeburg (D) |
Der Marktplatz und die auf einer Insel gelegene historische Innenstadt von Ratzeburg wurden von einer stark befahrenen Bundesstraße zerschnitten, auch hier gibt es viel Schwerlastverkehr. Um die Verkehrsmenge zu verringern, wird der PKW-Verkehr jetzt mit einer Pförtnerampel auf eine innerstädtische Entlastungsstraße umgeleitet. Nun steht der Marktplatz wieder als Aufenthaltsort und für Veranstaltungen zur Verfügung. | |
Einige | Friesland (NL) |
In der Provinz Friesland stand die Wiege von Shared Space. Hier sind auch entsprechend viele Proejkte zu finden, viele von ihnen klein und schon vor dem EU-Programm entstanden. Auch Drachten, das wohl bekannteste Beispiel einer Umgestaltung aufgrund der Prinzipien von Shared Space, liegt in Friesland. | |
Ja | Haren (NL) |
In Haren wurde eine Einkaufsstraße als Shared Space umgestaltet. Besonderen Wert legte man dabei auf die platzartige Neugestaltung von Kreuzungen. Dabei entstand ein Stadtraum mit hoher Aufenthaltsqualität, der sogar Leute aus dem benachbarten Groningen zum Bummeln anlockt: Hier ist immer etwas los. | |
Ja | Ostende (B) |
In Ostende wurde ein Wohngebiet, das an die Innenstadt angrenzt, umgestaltet. Dabei sollte vor allem ein besseres Wohnumfeld geschaffen und das Gebiet aufgewertet werden. Daher wurde im Rahmen des Projekts auch ein Park umgestaltet, ein Gemeinschaftshaus für die Anwohner gebaut und ein Fuß- und Radweg an einem Gewässer angelegt. Das hat sich sehr positiv auf den Ruf des Viertels ausgewirkt. | |
Nein | Ashford (GB) |
In Ashford soll die Ringstraße um das Ortszentrum als Shared Space umgestaltet werden. Dieser kühne Plan ist ein Teil des Flächensanierungsprojekts an der Bahninie, die zum Eurotunnel führt, und um den neuen internationalen Bahnhof herum. Fast die Hälfte des Shared-Space-Gebiets ist schon fertiggestellt, auf dem Rest der Ringstraße herrscht noch der mehrspurige Autoverkehr. Gut für einen Vorher/Nachher-Vergleich. | |
Ja | Ipswich (GB) |
In Ipswich wurde ein problembehaftetes Stadtgebiet in der Nähe des Stadions zum Shared-Space-Gebiet erkoren. Die Maßnahmen sind im Vergleich zu den anderen Projekten eher punktuell, aber gleichzeitig mit ihrer Umsetzung wurde auch ein anliegender Park attraktiver gemacht. In Ipswich wurden die Sehbehinderten besonders ausgiebig in die Planung einbezogen. |
Alle Fotos in der Tabelle wurden von Prof. Dr. Hisashi KUBOTA von der Universität Saitama zur Verfügung gestellt.
Zuletzt geändert am 13.10.2009
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